Das innere Schneegestöber

Pünktlich zur Advents- und Winterzeit finden sie sich in vielerlei Ausführungen in den Geschäften: die Schneekugeln. Durch Schütteln entsteht innen ein ordentliches Schneegestöber. Schön anzusehen ist das sanfte Herabsinken der Flocken, wodurch der kleine Gegenstand im Inneren immer klarer sichtbar wird. Dies ist ein gutes Bild für unsere innere Verfassung und unser Verhalten.

Gerade in der Adventszeit wirbeln wir häufig noch mehr umher als sonst, obwohl der Wunsch nach Ruhe und Harmonie groß ist. Wir versuchen den Arbeitsalltag und alle zusätzlich anstehenden Aufgaben sowie die Erwartungen an ein perfektes Weihnachtsfest zu erfüllen. Daneben wollen wir die Menschen, die uns privat und beruflich wichtig sind, beschenken, ihnen Wertschätzung entgegenbringen und Danke sagen. Dieses Vorhaben gerät, übertragen gesprochen, leicht zum hektischen Auffangen der Schneeflocken inmitten eines Schneegestöbers – mit dem Ergebnis, dass wir erschöpft in die erwartungsbeladenen Feiertage fallen. Dabei verlieren wir das Wesentliche aus dem Blick. Wir sehen nicht mehr, worauf es uns ankommt, verlieren den Bezug zu unseren Bedürfnissen und letztlich zu uns selbst. Wir überanstrengen uns, anstatt eine harmonische Zeit zu erleben. Diese Ambivalenz kann zu großer Unzufriedenheit führen.

 

 

 

Ruhe ist für die Seele der Anfang der Reinigung

Basilius der Große

Weshalb wirbeln wir überhaupt so viel?

Aktiv gestaltend zur Gemeinschaft zu gehören ist eines unserer Grundbedürfnisse. Dabei fördert und fordert die Leistungsbezogenheit unserer Gesellschaft unsere Aktivität in zunehmendem Ausmaß. Auf körperlicher Ebene aktiviert dies den Sympathikus, der uns von innen heraus wach und handlungsfähig macht. Verbunden mit leistungssteigernden Stresshormonen fühlen wir uns stark. So kommen wir in den Modus, den endlosen Schneeflocken im Sturm nachzujagen, alle Aufgaben zu bearbeiten, und gewöhnen uns daran. Dabei ist unser Umgang mit Zeit geprägt durch effizientes Handeln. Das Ziel: den Ablauf der Zeit in allen Lebensbereichen bestmöglich zu nutzen, ihr vielleicht ein Schnippchen zu schlagen. Beschleunigte Arbeits- und Kommunikationsprozesse verleiten uns dazu,
immer aktiv und online zu sein und uns im Multitasking zu versuchen. Mittlerweile gibt es in jedem Lebensbereich unzählige Möglichkeiten, sich zu beschäftigen und abzulenken. Wir leben immer mehr nach dem Prinzip „Dabei sein ist alles!“. Der Zugang zu Informationen ist immer möglich, so können wir jede freie Minute nutzen, zum Vergnügen oder zur Weiterbildung.

Die Auswirkungen des Wirbelns

Wir sind sehr geübt im Außen und in der Aktion, aber nur wenig im Innenhalten und der Begegnung mit uns selbst. So fällt es uns zunehmend schwer, Stille und uns selbst auszuhalten, zu erkennen und anzuerkennen, was uns im Inneren bewegt. Reduzieren wir unser Wirbeln im Außen, werden wir vom Wirbeln unserer Gedanken, Gefühle und von inneren Antreibern überrascht wie von einer Schneeverwehung. Den Umgang mit diesem inneren Gestöber haben wir in der Regel nicht gelernt und kommen daher nur schwer oder nicht zur Ruhe. Anhaltender Stress beeinträchtigt unser Gedächtnis, die Fähigkeiten des Problemlösens, des kreativen, assoziativen Denkens sowie der Konzentration, wodurch die Fehlerhäufigkeit steigt. Zahlreiche stressbedingte Krankheiten sind Zeichen unserer Zeit. Und Hand aufs Herz: Leiden Sie an „Fomo“? Immer mehr Menschen sind von dem Angstzustand „fear of missing out“ betroffen. Dan Ariely, Psychologe und Verhaltensforscher der Duke University, definiert dies als Angst, etwas zu verpassen und falsche Entscheidungen bzgl. der Freizeitgestaltung zu treffen. Unser Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit sowie die unendlichen Möglichkeiten, die uns insbesondere über Social Media gespiegelt werden, verstärken diese Angst. Es ist zu beobachten, dass wir unverbindlicher werden, um uns viele Optionen offenzuhalten. Dies erschwert berufliche wie private Beziehungen und bedeutet einen hohen Aufwand an Absprachen, Flexibilität und Energie. Durch unser Multitasking in der Freizeitgestaltung können wir Erlebnisse oft weniger genießen und nicht bewusst wahrnehmen. Wir sind überall und nirgends wirklich anwesend.

Das sanfte Ankommen bei uns selbst

Der erste Schritt zum Ankommen in der Ruhe, im Augenblick und schließlich bei uns selbst führt über die bewusste Entscheidung, die eigene Haltung und das Verhalten zu verändern. Es gilt, die Schneekugel ruhig zu halten, sodass sich das Gestöber legt, auch wenn das Schütteln sehr verlockend ist. Hilfreich ist der lösungsorientierte Blick des „Hin zu …“. Dabei geht es um folgende Fragen: Was benötige ich, um ausgeglichen zu sein? Was tut mir gut?

Für die weiteren Schritte brauchen wir Offenheit, Geduld mit uns selbst und Durchhaltevermögen, denn Verhaltensänderungen bzw. das Erlernen neuer Gewohnheiten benötigen etwa 30 Tage oder mehr, bis sie wirklich in das Leben integriert werden. Wir haben es in der Hand, ob wir ins Wirbeln oder in die Ruhe gehen. Wenn es nicht so gelingt, wie wir es uns wünschen, heißt es, gelassen dranzubleiben, evtl. nach Variationen zu suchen, die besser passen. Dies gehört zum Lernprozess dazu. Es ist eine tägliche Entscheidung, die Automatismen zu verlassen und einen neuen Weg einzuschlagen. Doch gerade in diesen instabilen Umbruchphasen melden sich innere Antreiber, die uns dazu drängen, genau jetzt noch tausendundeine Aufgabe zu erledigen. Dringend. Es hilft, diese Stimmen wahrzunehmen und bewusst einen Zeitpunkt für die spätere Auseinandersetzung mit ihnen zu setzen – nach der Ruhephase. Durch früheres Aufstehen bzw. das
Kürzen oder Ersetzen von Gewohnheiten, die uns keinen Mehrwert bringen, eröffnen sich Zeitspannen, um zur Ruhe zu kommen und für uns selbst zu sorgen.
Die Fragen „Was brauche ich?“ und „Was brauche ich wirklich?“ sind immer wieder ein Wegweiser. Welche konkreten Ideen haben Sie dazu? Wie und wann können Sie diese umsetzen?

Drei Dinge muss der Mensch wissen, um gut zu leben:
Was für ihn zu viel,
was für ihn zu wenig und
was für ihn genau richtig ist.

Weisheit der Suaheli

 

 

 

Das Geschenk des Ankommens

Es ist wertvoll, gut für sich selbst zu sorgen und wieder zur Ruhe zu kommen, denn so kommen wir sprichwörtlich wieder zu Kraft und Energie.

Der Parasympathikus unterstützt unsere Erholung und ermöglicht den Aufbau körpereigener Reserven. Unsere körperlichen Rhythmen (Atem, Schlaf) normalisieren sich, wenn wir uns genügend Ruhephasen gönnen. Daneben führen solche schöpferischen Pausen immer wieder zu erstaunlichen Erkenntnissen und neuer Motivation. Während dieser „muss-freien Zeiten“ kann viel passieren.

Vielleicht haben Sie es selbst schon erlebt: Kommt der Geist zur Ruhe, sehen wir plötzlich klar, wissen, welche nächsten Schritte anstehen und was wir bleiben lassen. Diese Erkenntnis in Kopf und Bauch dient uns als Orientierung. Oft ist dieser Eindruck so deutlich, dass wir uns erstaunt fragen, weshalb wir nicht früher auf die Lösung gekommen sind. Die neu gewonnene innere Klarheit setzt sich in unseren Handlungen und unserer Haltung nach außen fort. Wir wissen nun um das Was, Wie und Warum. Ankommen bei uns selbst bedeutet auch, SEIN zu können mit den Gedanken und Gefühlen, die da sind. Wir können unsere Rollen, all die Erwartungen an uns ablegen und wieder wahrnehmen, was uns beschäftigt, bewegt und wirklich wichtig ist.

 

Das Innehalten, das Wahrnehmen dieser Erkenntnisse und Lösungen, ist somit ein Geschenk an uns selbst. In diesen Momenten ist der Blick frei – wie auf eine weite Winterlandschaft. Mit dem zauberhaften Glitzern der Schneedecke breitet sich eine besondere Stimmung aus. Das innere Gestöber hat sich gelegt und es zeigen sich Spuren, die zuvor nicht sichtbar waren. Auch wir können nun gezielt und frei Spuren hinterlassen.

Wie sinnvoll und erfolgreich das Gleichgewicht von Aktivität und Ruhe auf Dauer ist, zeigt uns seit jeher die Natur.

Also ich BIN dann mal. Spazieren. Und Sie?

 

von Christina Handschel

www.handschel-coach.de

Artikel erschien in Ausgabe 9

Christina Handschel arbeitet als Coach und Sonderpädagogin. Seit über 10 Jahren begleitet sie Menschen bei Entwicklungs- und Veränderungsprozessen. Gelingende Kommunikation, gerade auch bei erschwerten Hörbedingungen, ist ihr ein besonderes Anliegen. Schwerpunkte in der Arbeit sind die lösungsorientierte Ausrichtung sowie die Potenzialarbeit zur Überwindung mentaler Blockaden.

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